Dichotomien des Lebens: Temporäre Biologie (Band V)
-------------------------------------------------------------- Die Dichotomie der Biologie

Und das Wort und den luftigen Flug des Gedankens erfand er, ersann Staatsordnende Satzungen, weiß dem ungastlichen Froste des Reifes und Zeus' Regenpfeilen zu entfliehn.

Überall weiß er Rat; Ratlos trifft ihn nichts Zukünftiges; vor dem Tode nur späht er kein Entrinnen aus

Sophokles

Ayganyan beheimatet eine Vielzahl von Formen dessen, was wir gemeinhin als Leben bezeichnen. Der Grund dafür liegt darin, dass sich in den Formvariationen des Phänomens Leben die Dynamik der physikalischen Welt in besonderem Maße widerspiegelt. Biologische Erscheinungen benötigen ihrerseits komplexe Formen, da nur ein hohes Maß an Komplexität höhere Formen der Ordnung ermöglicht. Zudem scheint ein weiterer Faktor wesentlich für das Phänomen des Lebens zu sein. Die Zeit als Ordnungsdimension liegt dem Leben als eine Größe, die jene scheinbar kausal unumkehrbaren Verbindungen erlaubt, die wir als Folgerichtigkeit wahrnehmen, und die damit auch evolutionäre Entwicklungen ermöglicht, ebenso zugrunde wie die drei Raumdimensionen.
Die Biologie des Ayganyan Projekts unterliegt dem Faktor Zeit jedoch nur beschränkt. Zwar wirkt die vierte Dimension im Sinne der Vorstellung von der biologischen Unumkehrbarkeit des Zeitpfeils, jedoch ist das Leben nicht abhängig von der Konstanz seiner Komplexität. Ayganyisches Leben kann ungemein kurz sein und zudem unabhängig von evolutionären Prozessen auftreten.
Diese einzigartigen, die Wirklichkeit Ayganyans durchziehenden Phänomene werden als temporäre Biologie [gada-ke--boridiin] (Erscheinungsform) bezeichnet. Alle anderen Formen des Lebens gelten als konstante Biologie [lajya]. In Abgrenzung von der temporären Variante stellt die Variante des konstanten Lebens komplexe Systeme dar, deren Funktionen auf begrenzte, jedoch konstant verlaufende Dauer hin absehbar sind.
----------------------------------------------------------------- Hoch temporäre Biologie
Hoch temporäre Lebensformen sind inhaltlich wie strukturell verwandt mit dem, was die Begriffe Eindruck, Einfall oder Erscheinung beschreiben. Sie sind erfahrbar, lassen sich jedoch außerordentlich schwer nachweisen. Ebenso problematisch ist die Reproduktion ihrer zeitlich begrenzten Erscheinungsformen. Das Auftauchen von Spezies temporärer Existenz geschieht prinzipiell überraschend. Diese überraschenden Momente können sich sowohl auf den Zeitpunkt, den Ort, die Dauer sowie auf die Art der Erscheinung beziehen. Ausgesprochen seltene Phänomene stellen konstante Relikte dieser inkonstanten Erscheinungen dar, so wie sie die Abbildung auf der rechten Seite zeigt.
Die äußere Gestalt des ursprünglich temporären Pooray wurde durch einen offenbar plötzlichen Austritt flüssigen Gesteins konserviert und damit in seiner Form fixiert. Der Fundort dieses Poorayrelikts ist Shinay (Shya-Takkaya).
Temporäre Lebensformen werden auch als Temporavi bezeichnet. Temporavi können in ihrer grundlegenden Struktur von konstantem Leben abweichen. Es wäre beispielsweise möglich, in der Nähe eines Madogiknotens auf turmhohe, zweidimensionale, von Ort zu Ort springende Haarbüschel zu stoßen, die sich nach kurzer Zeit als Lebewesen entpuppen, welche ihrerseits nach ebenso kurzer Zeit bereits wieder aufhören zu existieren. Eine Konsequenz daraus ist, dass die wenigsten Temporavi von Wesen wahrgenommen werden, die von ihnen berichten könnten. Das bedeutet auch, dass nur über wenige von ihnen Dokumentationen vorliegen. Statistisch gesehen tauchen die meisten von ihnen in äußerst kurzen Zeiteinheiten auf, die für die meisten Lebewesen in der Regel nicht einmal wahrnehmbar sind, da sie eine nur minimale Abweichung in den Quantenwerten der sie bestimmenden Raumzeit darstellen. Temporavi-Phänomene treten, und das macht den Zugriff auf sie besonders schwierig, besonders häufig an Orten auf, an denen sich zum Zeitpunkt ihrer Existenz kein Beobachter befindet.
Strukturell sind Raumzeitbereiche, in denen sich Temporavi nachweislich ereignen konnten, Madogi-Knoten, durch die Bereiche definiert werden, in denen sich im Rahmen der Veränderung von Wahrscheinlichkeiten aufgrund einer quantenphysikalisch modifizierten Anordnung prinzipieller Potenziale auch die Chance eines Auftretens von Temporavierscheinungen in signifikanter Weise erhöht. Das Vorhandensein von Phänomenen wie Temporavis, Madogi-Knoten und der ungleichmäßigen Verteilung der prinzipiellen Potenziale in der Lebenswelt der Ayganyier hat zur Folge, dass virtuellen Erscheinungen des Lebens ein kulturell wesentlich höherer Stellenwert beigemessen wird. Die Freiheit der Schöpfung des Moments erfordert jene angemessene Akzeptanz, die in der menschlichen Welt allenfalls der Fantasie zugebilligt wird.
Damit tritt das Denken in Potenzialen, imaginären Vernetzungen und Wahrscheinlichkeiten im Leben der Ayganyier häufig an die Stelle des kausalen Denkens und erfüllt damit gleichsam die Aufgabe, einerseits biologische Orientierungen in einer Welt zu ermöglichen, in der Inkonstanz gleichberechtigt neben Folgerichtigkeiten existiert. Andererseits erweitert diese Wahrnehmung von Wirklichkeit die Problemlösungsfähigkeiten im emotionalen und künstlerischen Bereich.
 
------------------------------------------------------------- Temporär konstante Biologie
Sie kommen und gehen, verharren, verschwinden
und bestehen, und doch geschieht ihnen kein Leid,
denn sie sind immer eine Projektion des Ganzen
in seiner unendlichen Vielfalt
auf der Höhlenwand der Möglichkeiten
.
Die Phänomene der hier beschriebenen Welt unterscheiden sich im Hinblick auf den Lebensbegriff deutlich von den irdischen. Temporäre Erscheinungen, Wahrscheinlichkeiten und potenzielle Strukturen beschreiben als Teil eines auf dem Prinzip ständiger Neustrukturierung basierenden Systems, dessen Aufbau offensichtlich durch und durch dynamisch ist, die Grundlagen für jene Konstrukte, die wir als temporäre Lebensform (Temporavi) bezeichnen.
Was aber unterscheidet biologisch temporäre Strukturen nun von herkömmlicher Biologie einerseits und rein abstrakten, formalen Gebilden andererseits?
Im Gegensatz zur abstrakten Ansammlung von Masse oder Energie ist die Form temporärer biologischer Strukturen im menschlich-gestaltpsychologischen Sinn geschlossen.
Inhaltlich betrachtet sind sie kurzzeitig biologisch funktionsfähig. Sie entsprechen damit einer temporären Erscheinung der physischen Manifestation von Leben.
Als Phänomen erlangen sie jedoch erst Geltung sobald sie wahrgenommen werden. Temporäre Lebensformen sind also Ordnungsformationen, deren Existenz ein gewisses Maß an Bewusstseinsenergie erfordert, die selbst dazu führt, dass die Struktur in ihrer Konstanz wahrgenommen wird, bzw. bestehen bleibt. Diese Energie entspricht entweder der eigenen, die dem temporären Lebewesen einen kommunikativen Zugang zu seiner Umgebung ermöglicht, oder aber der eines anderen Lebewesens, welches die kurzzeitige biologische Ordnung als solche identifiziert.
Da die Form der Temporavierscheinung grundsätzlich flüchtig ist, haben sowohl ihr Auftauchen als auch ihr Verschwinden per se den Charakter von Plötzlichkeit.
Die besondere Wahrscheinlichkeitsstruktur, an die die Existenz temporärer Biologie gekoppelt ist, führt in der Regel dazu, dass ihre Gestaltbildung ebenso unverhofft geschieht, wie sie wieder vergeht, denn die unmittelbare Formbildung stellt, ebenso wie die ewige Existenz einer Entität innerhalb der Grenzen von Zeit und Raum, zwar ein unwahrscheinliches, aber potenzielles Element des Systems der Existenz dar.

Aufgrund der notwendigen Veränderung der Potenzialverhältnisse der Quantenwelt bieten die Madogiknoten ideale Existenzbedingungen für die genannten temporären Phänomene. Das Verhältnis von Erwartung und Erfahrung im Bereich von Madogis ist per definitionem gegenüber der Normalität verschoben. In diesem Sinne ermöglicht die Wahrnehmung temporärer Biologie immer auch eine Erweiterung des Erfahrungs- und Kenntnishorizonts, da sie das Erlebnis der eigenen Grenzen im Hinblick auf die Gestaltwahrnehmung einschließt.
Die Koolay sind seit Äonen an dieser Erkenntnisform sind die Koolay interessiert. Ihre gesamte Zivilisation ist daran gewachsen.
Was wir später vorstellen wollen, sind Auszüge aus den seit Jahrhunderten andauernden Meditationsforschungen der Koolay sowie Ausschnitte aus dem Repertoire unseres persönlichen Erfahrungsschatzes. Wir kommen an dieser Stelle auch dem, außerhalb dieses Projekts liegenden Phänomen der Nikomis sehr nahe.

 

Zurück zur Dokumentenseite